Das Mantra „Never build your content house on rented land” ist in unserer Zunft das, was für den Bierbrauer das Reinheitsgebot von 1516 ist. Aber während das Reinheitsgebot die Jahrhunderte überlebt hat, ist der Content Marketing-Imperativ von der ausschließlichen Konzentration auf Kanäle, die man selbst völlig kontrolliert, kaum zweckmäßig. Auch wenn uns kürzlich wieder bewusst wurde, was der vorübergehende Ausfall von Facebook und Instagram bedeutet. Von Martin Schwarz. Sie wissen natürlich, wo Sie an diesem Tag waren. Die meisten wissen es. Wahrscheinlich haben Sie die Ereignisse ungläubig im TV verfolgt, vielleicht auch versucht, die eine oder andere News-Seite im Netz anzusteuern. Als am 11. September vor 20 Jahren American Airlines Flug 11 und United Airlines Flug 175 in den Nord – und dann den Südturm des World Trade Centers in New York einschlugen und später weitere Attentäter ein Flugzeug in das Pentagon in Virginia lenkten und ein viertes entführtes Flugzeug in Pennsylvania abstürzte, wurde unser persönliches Empfinden vor allem von der medialen Berichterstattung geprägt, geografische Distanzen aufgehoben durch emotionale Nähe und dem Gefühl, dass wir Zeug:innen eines Ereignisses sein würden, das uns noch lange beschäftigen würde – und zwar alltäglich und jeden einzelnen von uns.
Die Knochenhalde des Internets In den Stunden und Tagen rund um die Anschläge entstand auch im Netz großartiger Journalismus, viele Redaktionen experimentierten, um die Ereignisse nachzuzeichnen, mit interaktiven Formaten. Viel wurde in diesen Tagen in Adobe Flash gestaltet, damals Standard, um Multimedia-Inhalte anzuzeigen. Wer heute allerdings diese Seiten erneut besuchen möchte, wird sich mit Error-Meldungen konfrontiert sehen: Adobe hat Ende vergangenen Jahres den Support für Flash endgültig eingestellt – und damit auch ein Stück weit unser digitales Gedächtnis gekappt. Dan Pachecho, Journalismus-Professor an der Syracuse University, nennt diese Seiten des Webs die „Knochenhalde des Internets“. „Alles, was kein Text oder ein flaches Bild ist, ist im Grunde dazu bestimmt, zu verrotten und zu sterben, wenn neue Methoden zur Bereitstellung der Inhalte es ersetzen.“, so Pachecho gegenüber CNN. Solche technologischen Brüche mögen uns, die wir historisch vermutlich weniger relevante Inhalte produzieren, als eher abstraktes Problem aus der Steinzeit des Internets vorkommen. Doch das Problem ist sehr gegenwärtig – und jetzt wird es ein bisschen schlüpfrig: Erst vor wenigen Wochen hat onlyfans.com, eine Plattform, auf der eher hautnaher Content zu finden war, angekündigt, sexuelle Inhalte von der Plattform zu bannen – allerdings weniger aus Sorge um die Darsteller:innen oder aus einem wünschenswerten feministischen Impuls heraus, sondern vor allem, um die eigene Finanzierung nicht zu gefährden. Autostoppen im Web Auch wenn die Onlyfans-Pläne wieder verräumt wurden, auch wenn Adobe Flash als proprietäres System aus der Zeit gefallen sein mag, so sollten wir alle, die wir Inhalte produzieren und distribuieren, uns daran erinnern, dass wir gerade bei der Verteilung von Inhalten etwa über soziale Plattformen höchstens im Fonds eines Wagens sitzen, dessen Fahrer wir nicht dafür bezahlt haben, uns an ein von uns gewähltes Ziel zu bringen, noch ihm den Weg dorthin oder die Regeln, denen er sich zu unterwerfen hat, diktieren zu können. Die Arbeit mit all den coolen Plattformen, mit denen und auf denen wir unsere Inhalte bauen, ist vergleichbar mit dem Autostoppen: wir können gerne unser Wunschziel auf eine Papptafel schreiben, aber ob wir an jemanden geraten, der tatsächlich in die Richtung zu fahren beabsichtigt oder uns irgendwo im Nirgendwo stehen lässt, ist so klar mitnichten. Die reinste aller Lehren Umgelegt etwa auf soziale Plattformen bedeutet das: wir wenden erhebliche Anstrengungen auf, um Strategiewechseln, neuen Produkten und den Algorithmen-Veränderungen der großen Portale gerecht zu werden, können das aber meist nur in Ansätzen. Diese deprimierende Erkenntnis führt im Content Marketing zum Mantra „Never build on rented land“, der Warnung also, unsere schönen Content-Gebäude auf gepachtetem Land zu errichten – einer Pacht, für die wir in den meisten Fällen übrigens keinen Cent, aber mit vielen Daten, bezahlen. Statt erhebliche Anstrengungen aufzuwenden, um Social Media-Plattformen zu bespielen und jeden neuen Social Media-Hype mit den eigenen Kommunikationszielen in Einklang zu bringen, sollten Content-Verantwortliche sich also auf jene Plattformen konzentrieren, über die sie völlige Kontrolle haben: die eigene Website oder den Aufbau von Newsletter-Publikum. Soweit die reine Lehre, soweit das Reinheitsgebot. Outbound dabei Das Konzept der medialen Autarkie ist verlockend, aber es ist auch eines, das leider nicht mehr in unsere Zeit passt: Technologische Emissäre wie LinkedIn, Facebook oder Twitter sind mittlerweile in vielen Fällen erste Station bei der Suche nach Information und Orientierung – auch wenn sie in vielen Fällen in dieser Rolle kläglich versagen. Anders formuliert: lupenreines Inbound Marketing funktioniert nicht mehr, es trägt immer auch Züge des Outbound Marketings. Sich darauf zu verlassen, dass Inhalte per se ein Magnet sind, die User:innen beinahe hypnotisch auf unsere oder die Websites unserer Kunden ziehen, wird bloß zu Enttäuschungen führen – und ganz ehrlich: wir verlassen uns ja selbst dabei auf Dritte, Suchmaschinen nämlich, für deren Algorithmen wir möglichst gefällig unsere Texte aufbereiten und unsere Website-Strukturen bauen. Selektive Beschäftigung Was allerdings genau so stimmt: die Fundamente unserer inhaltlichen Architektur dürfen niemals auf Land entstehen, das wir nur gepachtet haben. Die eigene Website als Content Hub, der eigene Newsletter, das alles ist unverzichtbar. Und es empfiehlt sich, selektiv mit der Inbesitznahme und der Pacht dieses „rented land“ umzugehen: Plattformen, die nach längerer Zeit nichts zur Zielerreichung beitragen und die vor allem keinerlei Dialogdichte mit der Zielgruppe ermöglichen, müssen nicht länger bespielt werden (und fragen Sie mich jetzt bitte nicht, warum ich nach wie einen privaten Twitter-Account betreibe, der seit Monaten bei 173 Follower:innen stagniert. Helfen können Sie hier). Wir sind den Vernetzungsgiganten ausgeliefert und werden ihre technologischen Haken mithüpfen müssen, in gewissem Maße jedenfalls – und bei der Beschäftigung mit ihnen die Balance halten müssen mit unseren Bemühungen, die Fundamente unserer Inhalte auf eigenem Land tragfähig zu machen. Das ist die traurige Wahrheit. Sorry. Kommentare sind geschlossen.
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Oktober 2023
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